Architekturentwicklung jenseits des Mainstreams
01 January 2018
Architekturstudenten der ETH auf Studienreise in China
Von Christian Renfer unter Mitarbeit von Mulan Sun Buschor Fotos: © ZAO/standardarchitecture, Su Shengliang, Christian Renfer, Connie Zhou
Im Oktober 2016 organisierte der Architektur-Lehrstuhl von Prof. Mike Guyer, Mitinhaber des bekannten Architekturbüros Gigon/Guyer in Zürich, eine Seminarreise ¢ür Architekturstudenten der ETH nach China. Die Teilnehmer konnten sich glücklich schätzen, mit der ETH-Architektin Mulan Sun Buschor eine erfahrene und kompetente Reiseleiterin mit gleichem Berufshintergrund zu bekommen. Mit ihrer einhergehenden Kenntnis der aktuellen chinesischen Architekturszene stellte sie ein äusserst spannendes Programm zusammen, das die hohen Erwartungen der angehenden Architekten voll und ganz zu er¢üllen vermochte. Ich erhielt die einmalige Chance, die Gruppe zu begleiten und mir eröfnete sich in einigen der gezeigten Architekturlösungen eine un erwartet neue Sicht au das Thema Denkmalpflege und Transformation in diesem Lande, die ich ohne diese Werkstattbesuche wohl nie so hätte gewinnen können.
Natürlich ist eine Seminarreise nicht mehr als die Möglichkeit einen ersten Eindruck zu gewinnen, vor allem von einem derart grossen Land wie China. Es war naheliegend, eine solche Reise au den Osten Chinas und dort au die zwei wichtigsten Grossstädte Beijing und Shanghai zu konzentrieren. Damit wurde die Reiseroute durch das Dreieck Beijing-Hangzhou-Shanghai bestimmt. Als Schwerpunkt wurde den Fachstudenten in den anderthalb Wochen durch gezielte Kontakte mit ausgewählten Architekturbüros und die Besichtigung einzelner aktueller Bauten vor Ort ein kurzer Einblick in die gegenwärtige chinesische Architekturszene geboten. Zudem kamen die jungen Leute au der mehrtägigen Reise durch die urbanen Gebiete Beijings, Hangzhous und Shanghais unmittelbar mit dem sich dynamisch entwickelnden und ständig verändernden Architekturge¢üge der Grossstädte und dem pulsierenden Alltagsleben in Berührung. Stippvisiten an ein paar historischen Brennpunkten, wie der Verbotenen Stadt und Grossen Mauer in Beijing oder der im 19./20. Jahrhundert entstandenen Uferpromenade am Shanghaier Bund, liessen die grossartige Kulturgeschichte des Gastlandes erahnen und weckte wohl bei dem einen oder anderen Lust auküntige Chinabesuche. Diese touristischen Einlagen waren keineswegs nur als Verschnaufpausen gedacht, sondern wurden didaktisch geschickt ins Konzept der ganzen Reise eingebunden.
Prof. Guyer hatte die Seminarreise so angelegt, dass sich seine Studenten durch kurze Ein¢ührungen zu unterschiedlichen Architekturthemen vor Ort selbst aktiv an der Diskussion beteiligen konnten. So erläuterte ein Student anhand des Shanghai Tower die spezifischen Anforderungen an Konstruktion und Statik, denn der äusserst schlanke, mit Glas verkleidete Turm hat enormen Windkräten standzuhalten, muss absolut brand- und erdbebensicher sein und steht zudem au dem sandigen Schwemmland des Huangpu, das sich unter der Last des Gebäudes mehrere Zentimeter im Jahr absenkt.
Die chinesische Architekturszene wird, von aussen gesehen, weitestgehend durch die fortschreitende Urbanisierung des Landes und dem damit verbundenen ungebremsten Wachstum der Megacities bestimmt. Grosse Planungs- und Architekturbüros sorgen im Autrag von Behörden und Investoren im ganzen Land ¢ür die rasche Bereitstellung von Wohnraum ¢ür die in die Städte strömenden Menschenmassen. Sie brechen die bestehenden urbanen Strukturen gnadenlos au und erstellen in kürzester Zeit neue Satellitenstädte ¢ür Millionen von Einwohnern. Dass dieses Planungssystem in letzter Zeit auch bedeutende architektonische «Landmarks» hervorgebracht hat, indem sich die Verantwortlichen dem internationalen Wettbewerb stellten, sei hier nicht verschwiegen. Die Schweizer Studenten erhielten Gelegenheit, einige von ihnen zu besichtigen, u.a. in Beijing die Nationaloper (2007), das Olympiagelände mit dem bekannten «Nest» (2003-08) und den CCTV-Tower (2002-12), sowie in Shanghai das Wolkenkratzer-Dreigestirn im Finanzviertel Pudong, das unterdessen bereits vom technisch kühnen und bewusst nachhaltig konzipierten Shanghai Tower überragt wird. Dieses 2015 fertiggestellte gigantische Bauwerk mit seinen 632 Metern Höhe weist 128 Etagen über und ¢ün Etagen unter der Erde mit einer Flurfläche von insgesamt 420’000 m² auf. Die höchste Aussichtsplattform in der 121. Etage au 561 m ist höher als die au dem Burj Khalifa in Dubai mit 555,70 m. Doch nicht nur diesen international bekannten Bauten galt das Hauptinteresse der Reisegruppe, sondern auch einigen bemerkenswerten kleineren Architektur-Ateliers, die erst im letzten Jahrzehnt, sowohl in China selbst, als auch zunehmend im Westen, durch Ausstellungen und Preise bekannt geworden sind. Insidern sind ihre Namen schon seit längerem ein Begrif. Diese Architektur-Ateliers waren es, die das Programm in den bereisten Städten so spannend machten, denn sie öfneten ihre Werkstatt bereitwillig und erläuterten anschaulich ihre Arbeitsweise anhand von Projekten. In Beijing konnten wir ZAO/Standardarchitecture, TAO Trace Architecture Ofice und Vector Architects besuchen. In Hangzhou dagegen waren wir beim Pritzkerpreisträger Wang Shu (Jg. 1963). In Shanghai galt das Interesse vor allem dem durch den Bau des Long Art Museums am Westbund bekannt gewordenen Atelier Deshaus.
Für die Studenten war der Hutong-Umbau von Zhang Ke von ZAO/Standardarchitecture im Beijinger Zentrum das verständlichste aller gezeigten Beispiele. Ein in seiner Substanz eher bescheidener traditioneller Hofhauskomplex No 8 Cha’er Hutong, bei dem sich eingeschossige Wohnhäuser in Holz und grauen Backsteinwänden um einen, später mit Einbauten verstellten Ho gruppieren, wurde hier mit minimalen funktionalen und gestalterischen Eingrifen ergänzt. Das Resultat ist eine glaubwürdige Wiederbelebung, die heutigen Wohnbedürfnissen entspricht. Die einzigen sichtbaren Eingrife sind die klar additiv gesetzten neuen Fensterelemente in Holz und die in schrägen Winkeln einge¢ügten zusätzlichen «Raumboxen». Zudem blieben die Einbauten im Ho und der alte Baum als geschichtliche Reminiszenzen unangetastet.
Das gebotene Spektrum der Reise war weit. Mich faszinierte jedoch besonders das Phänomen, dass sich einige der besuchten Architekten individuell mit Themen der traditionellen ländlichen oder urbanen Bauweise befassten und daraus bestimmte Vorgehensweisen ¢ür ihre Transformationen und Neuinterpretationen ableiteten, ohne einer denkmalpflegerischen Zielsetzung zu verfallen. Während Zhang Ke mit dem Umbau eines bescheidenen Beijinger Hofhauskomplexes No 8 Cha’er Hutong überzeugte, verbaute Wang Shu zusammengetragene Materialien aus örtlichen Hausabbrüchen am Neubau des Fuyang Art Museums und belebte so traditionelle Bautechniken, wie den Lehmbau (Hangzhou, New Art Academy). Das Atelier Deshaus bettete ein letztes Stück einer Fabrikruine, deren Konstruktion ihm zugleich als Entwurfsidee diente, in den Neubaukomplex eines Kunstmuseums ein (Shanghai, Long Art Museum am Westbund) und erinnerte damit an das grossflächig verschwundene Industrieareal am Huangpu River. Diese Architekten wissen mit ihren ambitionierten Pilotprojekten weltweit zu überzeugen. Sie setzen damit gesellschatliche und wirtschatliche, aber auch technische Meilensteine, ¢ür die sie zunehmend nationale und internationale Anerkennung erhalten. Für ihre signifikanten Beiträge zur zeitgenössischen Architektur erhielt Wang Shu 2012 als erster Chinese den international renommierte Pritzker Preis und Zhang Ke wurde 2017 mit der ebenso prestigeträchtigen Alvar Aalto Medaille ausgezeichnet.